Einführung Katalog zur Ausstellung KUR von Julia Arztmann und Sylvie Hauptvogel | 2019
Dr. Andrea Brockmann Die Idee von KUR – Stoff, Körper und das Abwesende
Julia Arztmann und Sylvie Hauptvogel sind zwei Künstlerinnen, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit der phänomenologischen Verfasstheit des Textilen befassen, einem weichen Material, eher fließend als fest. Textiles ist verletzlicher als andere Materialien – es reißt leicht, nutzt sich ab, löst sich auf, trägt Spuren in sich. Das nähert es dem Körperlichen an, nicht zuletzt wegen seiner Biegsamkeit und der damit einhergehenden Fähigkeit, sich Untergründen und Formen anzuschmiegen, diese einzukleiden und zur zweiten Haut zu werden.
Das Spektrum der Materialien, aus denen Kunstwerke entstehen, hat sich seit den 1960er Jahren in fast unüberschaubarer Weise erweitert. Im Zuge der sich auflösenden Grenzen zwischen den Medien fanden neue, zuvor unbeachtete Werkstoffe Eingang in die Kunst. Seither werden auch Materialien wie Fäden, Garne und Stoffe, die traditionell mit Handwerk oder Kunsthandwerk verbunden sind, eingesetzt. So zeigt die Ausstellung von Julia Arztmann und Sylvie Hauptvogel mithin auch, welchen Stellenwert Textilien in der Kunst einnehmen und welche Intentionen mit der Verwendung so unkonventioneller Materialien wie Filz oder Fleece, Kleidungsstücke oder Strickstoffe verbunden sind.
Textilien begleiten den Menschen in allen Phasen seines Lebens von der Geburt bis zum Tod. Hergestellt aus tierischen, pflanzlichen oder synthetischen Fasern sind sie nicht nur als wärmende und schützende Kleidungsstücke unentbehrlich, sie finden ebenso in unzähligen alltäglichen Vorgängen vom Taschen- zum Geschirrtuch Verwendung oder dienen der Dekoration von privaten und öffentlichen Räumen. Jahrhundertelang blieb die künstlerische Nutzung textiler Materialien im Wesentlichen auf die Verwendung von Stoffen als Bildträger in der Malerei oder aber auf den Bereich der Tapisserien, Bildteppiche und Gobelins beschränkt.1
Die Etablierung von Textilien als autonome künstlerische Werkstoffe begann erst in den 1950er Jahren und erfuhr seit 1960 im Kontext des allgemeinen revolutionären Aufbruchs der Künste, der Erweiterung des Kunstbegriffs und des neuen Interesses an veränderlichen, instabilen und amorphen Materialien einen ungeahnten Aufschwung. Seither sind Materialien wie Filz, Bettwäsche, Teppiche oder Häkelobjekte selbstverständliche Gestaltungselemente in der internationalen Gegenwartskunst. Ohne diesen erweiterten Kunstbegriff der 1960er-Jahre und ohne Pop-Art, Konzeptkunst, Fluxus und Minimal Art wären die Gestaltungsmittel und die künstlerische Konzeption von Julia Arztmann und Sylvie Hauptvogel nicht zu verstehen.
Ebenso vielfältig wie die textilen Materialien selbst sind auch die Intentionen, mit denen diese ursprünglich oftmals weiblich konnotierten Werkstoffe als zeitgemäße Bedeutungsträger eingesetzt werden. So präsentiert die Ausstellung der beiden Künstlerinnen zwei individuelle künstlerische Haltungen und lässt auf gleichermaßen überraschende wie faszinierende Weise anschaulich werden, wie differenziert und phantasievoll der Umgang mit textilen Materialien in der zeitgenössischen Kunst sein kann.
Julia Arztmann und Sylvie Hauptvogel haben ihrer Ausstellung den Titel KUR gegeben und vereinen in ihrem Konzept Themen wie Gesundheit und Körperlichkeit, Regeneration und Freizeit. Die Künstlerinnen buchstabieren in ihren Inszenierungen und Installationen aber keine konkreten, abbildhaften Erzählungen aus. Indem sie auf vielschichtige Bezüge setzen, die nicht eindeutig aufzuschlüsseln sind, schaffen sie Stimmungsbilder, Imaginationsräume und Andeutungen. Die Erfahrung der Haptik von Stoffen und Materialien, die Dekontextualisierung von Wäschestücken, das Empfinden von Körperlichkeit und das daraus resultierende Handeln im Raum macht den Ausstellungsrundgang zu einem besonderen Erlebnis.
Mit der öffentlichen Förderung von Gesundheits- und Heilungsprogrammen war den Kurbädern seit den 1950er Jahren eine Glanzzeit beschert. Die Bäder boomten und schufen neben prunkvollen Angeboten für ein reiches Publikum auch ein Kurprogramm für jedermann. Doch Mitte der 1990er Jahre wurde die kassenärztliche Kur durch die Gesundheitsreform radikal beschnitten. In den 90ern gab es in Deutschland 900.000 Kuren, heute sind es nur noch 45.000.2 Wie auf der Titanic spielten die Kurorchester noch lange fröhlich weiter, obwohl sich der Untergang ob der horrenden Kosten längst andeutete. Julia Arztmann und Sylvie Hauptvogel führen mit ihren dokumentarischen Fotos den Niedergang der Kurorte, die marode Infrastruktur, die Leerstände, den Charme von siechenden Kurhäusern und Kliniken vor, von Idylle keine Spur, stattdessen Plastikliegen und geschlossene Rollläden. Neben den Wandarbeiten gestalten sie in den Flottmann-Hallen eine Landschaft aus softem Material, die Assoziationen an medizinische Hilfsmittel und Apparaturen, an Badekultur und Wasserspiele weckt.
Trinkkur oder Lachkur – ein Augenzwinkern begleitet die Ausstellung. Aber auch eine gesellschaftliche Beobachtung: Das Gesundheitsbewusstsein der Menschen wird immer stärker, Themen wie Wellness und Erholung werden immer wichtiger. Muße, Loslassen, Rasten, spielerisch auch mit schwierigen Lebenssituationen umgehen – das ist mithin auch eine Botschaft der Ausstellung. Ein passendes Bild dafür hat Sylvie Hauptvogel mit ihrer Arbeit Halb in der Wand gefunden. Auch wenn man steckenbleibt, gilt es gelassen zu bleiben, eine Auszeit zu nehmen.
In einem künstlerischen Prozess transformiert und archiviert Sylvie Hauptvogel Kleidung als Fundstücke, spürt im Banalen das Subtile auf und entdeckt im Alltag das Unalltägliche. Sie nutzt alte Frottee-, Breitripp- und Feinrippunterwäsche für ihre Module oder Nachthemden für die Doppelarmknüpfmodule und sucht für die Hüllen authentische, getragene Schürzen, Kleidungsstücke mit auffallenden Mustern und Gebrauchsspuren und einer zu imaginierenden Geschichte. Es sind Zeugnisse eines Frauenlebens, Sinnbild für die Wirtschaftswunderzeit, auch Reminiszenz an eine kindliche Erinnerung von Besuchen bei der Großmutter. Ihre künstlerische Strategie folgt sowohl einer Ästhetik des Ephemeren, das dem Textilen als vergänglichem Material zu eigen ist, als auch dem Erzählen als Erinnerungsbewegung. Die Körper sind abwesend, zurück bleiben Unterhose, Schürze oder Strumpfhose als Hardware des Lebens und der materiellen Welt mit ihren Zuschreibungen, Dresscodes und Konnotationen. Die Inszenierung der Objekte als Modulare Landschaft entwickelt eine sinnliche und körperliche Präsenz. Werden die mit Füllwatte ausgestopften Stoffkörper aus Unterhemden an der Badezimmerstange gleich losturnen?
Einen anderen Aspekt von Körperlichkeit greifen die Kissenobjekte organics auf. Auf dem Bezug zeichnet sich kein schlafender Kopf oder Traumbild ab, sondern sie sind von vorne mit fünf verschiedenen Motiven im Siebdruckverfahren bedruckt. Die Motive erinnern auf den ersten Blick stark an körperliche Attribute, einen Darm oder Mageninnenraum. Beim näheren Hinsehen entpuppen sie sich jedoch als gestrickte Schläuche, die in Handarbeit auf einer großen Strickliesel entstanden sind.
Julia Arztmanns Objekte mit Titeln wie Medizinisches Hilfsmittel, Zubehör oder Apparatus sind aus Fleece und Stoff hergestellt und erinnern in ihrer Form an Gerätschaften aus dem Sanitätsbedarf. Ihre wirkliche Funktion erschließt sich jedoch nicht. Und sie wirken ein wenig beunruhigend – vor allem die Pritsche aus Kunstleder, die auch in einer Folterkammer oder einem Gruselkabinett stehen könnte. Beim Betrachten der Arbeit do not use this brain kommen Gedanken an eine Gehirnwäsche auf, an einschlägige Apparate und Einrichtungen wie Gehirnscanner. Kann man mit der Haube tatsächlich einen Blick ins Gehirn werfen? Und begegnen wir mit dem Objekt Anlage einem künstlerischen Selbstreinigungsservice?
Die überdimensionale Zapfanlage führt vor, wie Stoff eine skulpturale Kraft entwickelt, zum voluminösen Körper wird. Julia Arztmann gelingt es, Stoff als künstlerisches Ausdrucksmittel formbildend im Sinne einer Bildhauerin einzusetzen. Das Objekt wirkt in seiner Übergröße bizarr und gibt Rätsel auf. Kann man aus den schwarzen kranartigen Tentakeln Heilwasser zapfen? Auch die kleineren Textilobjekte, Dinge, Geräte, Instrumente, Gegenstände sind nur auf den ersten Blick vertraut, sie erscheinen transformiert, sind eigenwillig und offen für Interpretationen. Ausgangspunkt ihrer Objekte sind Stoffe und deren Materialität. Als gewebte Struktur beruht Stoff auf dem System sich kreuzender Fäden, das über Serie und Wiederholung zu Komplexität und Schönheit führt. Von Julia Arztmann als Material, Struktur, Textur und Artefakt eingesetzt, wird Stoff zum Medium, um über Formen, Prozesse und Abstraktionen zu reflektieren.
Dr. Andrea Brockmann
1 Das Textile stand vor einigen Jahren im Fokus einer Reihe von Ausstellungsprojekten, die sich dezidiert im Kontext einer zeitgenössischen Kunst- und Ausstellungspraxis verorteten – wie u. a. „Textiles: Open Letter“ (Museum Abteiberg, 2013), „Kunst und Textil“ (Kunstmuseum Wolfsburg, 2013/2014), „To Open Eyes. Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute“ (Kunsthalle Bielefeld, 2013/2014), „Kunst | Stoff“ (Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg, 2015). In den ausstellungsbegleitenden Katalogen finden sich verschiedene Aufsätze, die sich mit der Entwicklung der künstlerischen Nutzung von Textilien beschäftigen.
2 Angaben in https://www.welt.de/regionales/bayern/article162951182/ Das-Comeback-der-Kurbaeder.html (abgerufen am 14.01.2019)
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