Die Entdeckung einer ganz besonderen Spezies
Dr. Annette Georgi über die Künstlerin Julia Arztmann
Die kuriosen Wesen aus der Gedankenwelt von Julia Arztmann materialisieren sich mittlerweile in verschiedensten Techniken. Wenn man ihr Atelier betritt, taucht man ein in den wundersamen Kosmos dieser besonderen Geschöpfe. Hier sind Stoffobjekte, Keramiken und Aquarelle ebenso beheimatet wie faszinierende Assemblagen, hier entstehen statische und bewegliche Skulpturen, große und kleine Mischwesen, sogar Exemplare die – in performativer Kooperation mit der Künstlerin – als Darsteller/innen in Filmen agieren. Hier tummelt sich ein breites Spektrum an Skurrilitäten, das uns staunen lässt.
Diese Gestalten weichen deutlich ab von allem, was wir bereits gesehen haben. Wir haben keinerlei Konnotationen, wie sie beispielsweise bei Adler, Eule oder Löwe ikonographisch festgeschrieben sind und haben somit die Möglichkeit, uns völlig unvorbelastet auf sie einzulassen. Wir lernen sie kennen und fragen uns unwillkürlich nach Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Obwohl wir vielleicht zunächst aufgrund der komischen Physiognomie belustigt sind, haben wir ganz unmittelbar den Verdacht, dass hinter dieser selbstvergessenen Souveränität eine Weisheit steckt, die uns zum Narren hält. Schnell verschiebt sich die Perspektive: Sind wir vielleicht diejenigen, die beobachtet werden? Staunend können wir mit dieser humorvollen und kreativen, manchmal auch etwas gruseligen Spezies in Kontakt treten und darüber auch den routinierten Blick auf den Alltag erfrischen.
Als erste Gattung der Arztmannschen Wesen entstanden die textilen Geschöpfe. Sie beeindrucken durch die kontrastreiche Gegenüberstellung verschiedenster Farben, Haptiken und Glanzgrade. Glattes und Flauschiges wird ebenso kombiniert wie Schillerndes mit Mattem. Edel-glitzernde Paillettenstoffe treffen auf stumpfe und ruppige Materialien, oft stellen Bänder, Borten, Perlen und Knöpfe weitere kuriose anatomische Details dar. Das umhüllte Volumen erscheint mal drall und steif, mal weich und beweglich. Manche Formen sind vertraut und erinnern an Gesehenes, andere wirken fremd und bizarr. Mal glauben wir, es mit einem leisen und schüchternen Gegenüber zu tun zu haben, andere Wesen erleben wir als ungestüm und wild.
Zu den stofflichen Individuen gesellten sich schon bald technisch-mechanische Elemente. Flaschen, Haken, Haushaltsgeräte oder deren Teile, ja sogar ganze Möbelstücke verbinden sich mit dem textilen Ur-Geschöpf zu wunderlichen Verquickungen.
Reale vertraute Dinge, wie Nachttische, Polsterhocker oder Pantoffeln überführt die Künstlerin hier in eine Sphäre des Surrealen und lässt uns dadurch auch in der realen Welt die alltäglichen Dinge anders anschauen. Plötzlich haben wir einen anderen Blick auf das Banale, trennen gedanklich die Form von der Funktion und können Neues in scheinbar Vertrautem entdecken.
Das Verhältnis der Teile zueinander ist in den Werken von Julia Arztmann eigentümlich und variantenreich: Mal heften sich die maschinenmäßigen Elemente wie Parasiten an ihre organischen Wirte, mal verbinden sie sich ganz symbiotisch mit ihnen, geben ihnen Richtung und Form oder lassen sich von den weichen Elementen umschmeicheln. Aber ob ruhiges Miteinander oder lauter Dialog, immer haben wir es mit fantastischen hybriden Einheiten zu tun, die uns in der Diskrepanz zwischen ihrer selbstverständlichen Erscheinung und dem Scheitern des Abgleichs mit unserer Seherfahrung überraschen und irritieren. In ihrer Vielseitigkeit lösen sie die unterschiedlichsten Assoziationen aus, lassen uns ganze Biografien erdenken, Dialoge entwickeln und Geschichten erfinden, die die mitunter prekäre Lage der Kreaturen erklären. Tragische Kämpfe finden sich ebenso wie romantische Zärtlichkeiten, verzweifelte Verhakungen und lustvolle Verschmelzungen. Immer sind wir – trotz einer mitunter skurrilen Komik – beeindruckt von der Souveränität und Würde des Objektes.
Auch in den Aquarellen finden wir besondere Persönlichkeiten mit körperlichen und seelischen Eigenheiten, mit Fähigkeiten und Kompetenzen, mit emotionalem und intellektuellem Witz. Kreaturen, die aus der Tiefsee, einem Traum oder der Zukunft zu kommen scheinen und unsere bisherige Vorstellung von dem, was möglich ist, auf wundersame Weise widerlegen. Die Darstellung changiert auch hier zwischen naturalistischer Dokumentation und surrealistischer Verschmelzung scheinbar unvereinbarer Teile. Erst ist man versucht zu glauben, dass es diese Wesen tatsächlich gibt, dann erkennt man, dass mit ihnen verwachsene Versatzstücke aus dem Alltagsleben – wie Käseglocken, Lampenschirme oder Staubsaugergriffe – diese Kreaturen zu Wunderwesen werden lassen. Sie scheinen aus einer anderen Sphäre zu kommen und, gerade mal durch die Ideenwelt der Künstlerin huschend, von ihr malerisch eingefangen worden zu sein. Manche Gestalten sind besonders schnell und schwer zu fassen, ragen sie doch über den Bildträger hinaus in die Unsichtbarkeit, als würden sie sich wieder in ihren ursprünglichen Lebensraum zurückziehen.
Julia Arztmann experimentiert mit den Möglichkeiten der Aquarellmalerei und entlockt dieser traditionellen Maltechnik eine erstaunliche gestalterische Bandbreite. Mit unterschiedlichen Farben arbeitend, sucht sie immer nach einer besonderen Brillanz. Das durchaus für das Aquarell unübliche satte und kräftige Kolorit korrespondiert mit der beeindruckenden Präsenz der dargestellten Wesen. Fast fühlbar hat die Künstlerin deren unterschiedliche Oberflächenstrukturen anschaulich gemacht. Mal dicht und deckend, mal leicht und fluffig legt sie die Pigmente aufs Papier, so dass die geschlossenen Bereiche eine glatte und glänzende Oberfläche, eine harte, kühle Materialität assoziieren, wohingegen offenere Farbfelder flauschiger wirken und dadurch an weiche, samtige oder fellartige Strukturen denken lassen. Ihre Geschöpfe haben Kraft und Selbstbewusstsein, scheinen Stolz darauf zu sein, von der Norm abzuweichen. Sie sind nicht leise, lieblich, blass und zurückhaltend, sondern thronen freudig-farbig und elegant, satt und vollgesaugt von Blau, Grün oder Rot auf dem Bildträger. Dieser ist unterschiedlich strukturiert, mal wählt Julia Arztmann zartes, glattes Aquarellpapier, manches Blatt zeichnet sich aber auch durch eine regelrecht zerklüftete Oberfläche aus, deren Haptik durch partiell anhaftende Pigmente in Höhen oder Tälern visuell besonders hervorgehoben wird.
Bei der Aquarellmalerei ergänzt Julia Arztmann ihre eigene Ideenwelt mit den zufälligen Strukturen, die das Material von sich aus entwickelt. Insbesondere bei den nass in Nass entstandenen Werken ist es die Saugkraft des Papiers, die Kapillarwirkung, die das gefärbte Wasser durch die Fläche zieht und unberechenbare Gebilde erscheinen lässt. So lotet die Künstlerin die Zusammenarbeit von Pigment, Wasser und Papier aus, zieht sich in ihrer Verantwortlichkeit zurück. Sie überlässt den Prozess des Werdens auf dem Bildträger der Zeit, die die Flüssigkeit braucht, um die Farbe zu transportieren. In diesen Bereichen und Bildern erkennen wir oft nichts Gegenständliches mehr. Hier formt das Loslassen die Struktur, das Anheimgeben der Farbe an das Medium Wasser. Gerade dadurch zieht uns die Serie der „Holes“ in ihren Bann. Diese „Löcher“ üben einen Sog aus und locken uns in eine Tiefe, die im besten Falle Schutz verspricht, die aber auch Behausung für unbekannte, vielleicht sogar furchterregende Wesen sein kann. Durch zarte Schleier von Petrol, Blau, Grün und Rosé verlieren diese Un-Orte an Schrecken: Bei genauerer Betrachtung stellt sich das monochrome Schwarz als Träger eines Hoffnungsschimmers dar und ermutigt zur Annäherung. Selbst in tiefster Dunkelheit offenbaren sich hier Licht und Farbe.
Die neuesten Artbildungen in Julia Arztmanns Oeuvre sind Keramikwesen. Deren farbig glasierte Oberfläche leuchtet schmuckvoll und elegant, sie glänzt, als wäre das Geschöpf gerade frisch aus dem Wasser gefischt. Fast scheint man noch einzelne Wassertropfen erkennen zu können, und das reflektierende Licht auf der schuppig-glitschigen Haut gibt diesen fantastischen Seewesen eine gewisse Lebendigkeit. Durch die Verwendung unterschiedlicher Tonarten und Glasuren gelingt es, verschiedene Effekte zu erzielen und den Geschöpfen ganz eigene Charaktere zuzuschreiben. Mitunter offenbart sich erst nach dem Brand der Reiz des jeweiligen Individuums und überrascht somit selbst die Künstlerin.
Bei den fremdartigen Strukturen sucht auch hier der Betrachter unvermittelt nach Wiedererkennbarem – und tatsächlich finden wir Bekanntes. Aber egal ob wir einen Krebs, einen Hammerhai, eine Koralle entdecken – schon bald überwiegt der Störfaktor, die Abweichung ins Surreale. Immer schwanken wir zwischen dem flüchtigen Eindruck des Vertrauten und der verstörenden Erkenntnis, dass wir so etwas noch nicht gesehen haben: Zwei Tiere, die unweigerlich miteinander verbunden sind, in inniger Umarmung oder einem wirbelnden Kampf, im friedlichen Miteinander oder im harten Zusammenprall. Mensch und Tier, voneinander verschluckt, miteinander verwachsen in Harmonie oder Konkurrenz. Wir fragen uns, wie diese Wesen leben und funktionieren können, wie es „richtig“ gehören würde und merken, dass unsere reale Welt vielleicht nur eine von vielen denkbaren ist. Es liegt bei uns, die Geschichte der Geschöpfe zu erzählen und das Miteinander ihrer Teile zu erklären. Dabei müssen wir Bekanntes hinter uns lassen, uns auf das Ungewöhnliche einlassen und das Unlogische aushalten können.
Mit ungebremster Experimentierfreude erweitert Julia Arztmann ihre keramischen Arbeiten mit textilen Extremitäten und Hinzufügungen. Wie bei den Stoffobjekten, die mit Fundstücken aus dem Alltag kombiniert werden, haben wir hier ein Neben- und Miteinander von hart und weich, zerbrechlich und knautschig, beweglich und starr. Die glänzende Keramik tritt formal in Dialog mit dem matten Stoff und verbildlicht so die inhaltliche Bezugnahme der beiden Teilbereiche der Skulptur. Verschiedene Symbiosen und Verschmelzungen lassen uns eintauchen in eine Phantasiewelt, deren Reichtum gleichermaßen verstörend wie beglückend ist.
Mit ihren Mischwesen setzt Julia Arztmann eine große und großartige Tradition fort. Das hohe Gut der Phantasie wurde bereits im Mittelalter als die Fähigkeit bezeichnet, aus dem gottgegebenen Formenrepertoire der Natur auszuwählen und immer neue Kombinationen zu erfinden. Und schon immer war auch der Aspekt des Wunderns, Gruselns und Staunens etwas sehr Reizvolles, dieses Spiel zwischen angezogen sein und abgestoßen werden, dass eine Entscheidung von uns verlangt, eine Stellungnahme, die wir als befreiend und klärend empfinden. Bereits Hieronymus Bosch hat seine Leinwände mit Wesen gefüllt, die eine ähnliche Faszination ausüben wie die Werke Arztmanns. Hier wie dort finden wir die Kombination von hart und weich, von natürlich und unnatürlich, von verständlich und völlig irrwitzig. Fabelhafte Wesen, die auf einer genauen Beobachtung der Natur beruhen und gleichzeitig allen unseren Sehgewohnheiten widersprechen. Neugier und Einfallsreichtum verbanden sich mit neuen wissenschaftlichen Thesen zu einem phantastischen bildlichen Konglomerat, was jenseits der Sprache Fragen stellte, kritisierte, anprangerte, aber auch belustigte, den Blick für Mögliches öffnete und aus einer Engstirnigkeit befreite.
Etwa zur gleichen Zeit schuf Albrecht Dürer den schon bald weit verbreiteten Holzschnitt des bis dahin in Europa völlig unbekannten Rhinozeros. Eine faszinierende Beschreibung war Grundlage dieser Darstellung, die – wie auch viele Werke Julia Arztmanns – dokumentarische und phantastische Aspekte miteinander verbindet. Damals konnte man kaum glauben, dass es so ein exotisches Tier überhaupt gibt, mittlerweile sind Panzernashörner wissenschaftlich belegt und erforscht. Es wird deutlich, dass auch die unglaublichsten Dinge Realität sein oder werden können, auch wenn wir an ihrer Existenz zunächst zweifeln.
Die Begeisterung für Wundersames und Skurriles scheint in die Konstitution des Menschen eingeschrieben zu sein, daher faszinieren auch die malerischen Assemblagen Archimboldos. Durch die Zusammenstellung von Gegenständen ihrer beruflichen Tätigkeiten, porträtierte und charakterisierte er die abgebildeten Personen gleichermaßen. Besonders verblüffend sind die Werke, die auf den Kopf gestellt ein weiteres Motiv offenbaren. Weitere Beispiele für skurrile Assemblagen finden sich auch bei Rodin, der einen großen Fundus an Abgüssen menschlicher Körperteile hatte und diese in verrückten Kombinationen zu neuen Sinnzusammenhängen verschmolz.
Kurzum, die Geschöpfe Julia Arztmanns treten in große Fußstapfen – und das mit beeindruckender Souveränität. Manchmal schnuppern diese Wesen Museumsluft, bevölkern Galerien oder den öffentlichen Raum. Sie verunsichern, irritieren und necken die Besucher. Sie schauen uns an und hinterfragen uns. Julia Arztmann inszeniert mit ihren Ausstellungen eine andere Welt, einen Kosmos, in dem die Perspektive von Subjekt und Objekt schnell wechselt. Man fühlt sich fast klein, ertappt und unwissend angesichts der mächtigen und reifen, komplexen Charaktere, die uns sogar mit ihrem Witz noch Respekt einflößen. Als reelle Verkörperungen der Idee des Verrückten in einer normierten Welt stellen sie die Frage, was denkbar und was möglich ist. Systeme, deren Existenz wir angezweifelt haben, scheinen hier zu funktionieren. Kausalität, die wir für notwendig hielten, wird plötzlich unwichtig. Wie in einem Traum, der undenkbare Wahrheiten offenbart, agieren die Figuren Arztmanns auf einer Ebene hinter der Logik. Mit ihrer seltsamen Anmutung offenbaren sie, wie eingeengt wir in unseren Vorstellungen, Denkmustern und Erwartungen sind. Fantastisches, Unbekanntes und Verrücktes ohne Scheu zu betrachten lernt man bei Ausstellungen, Performances und Filmen von Julia Arztmann. Man wird wach, offen und frei, kann sich verblüfft darüber freuen, dass Gesetze und Regeln außer Kraft gesetzt sind. Hier wird das kindliche Staunen rehabilitiert und als notwendiges Element eines „ganzen“ Menschen, der sich aus der Umklammerung der Ration befreien möchte, angefeuert. So öffnet die Künstlerin unseren Blick nicht nur für ihre Werke, sondern hinterfragt zudem unsere Haltung der vermeintlich rational erfassbaren Welt gegenüber.
Dr. Annette Georgi